Wenn sich weiße Wolken vor die Augen schieben.

Die Geschichte von Hildegard Neumann, Empfängerin zweier Augenhornhauttransplantate in den 1970ern

Damals sagte man mir, dass die Transplantate vermutlich 15 bis 20 Jahre halten würden, man dann neu operieren müsste. Aber nein. Inzwischen lebe ich seit fast 50 Jahren mit den Spenderhornhäuten und erfreue mich jeden Tag über eine klare Sicht.

Gebürtig komme ich aus dem Landkreis Vechta. Mit 18 Jahren zog es mich nach Hamburg. Kurz darauf fingen bei mir die Probleme mit dem Sehen an. Ich bekam mit der Zeit immer dichtere Flecken auf der Hornhaut und hatte das Gefühl, weiße, flache Wolken vor dem Auge zu haben, durch die ich einfach nicht hindurchsehen konnte.

Ich machte in Hamburg bei einer Firma für Klimatechnik eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Ja, Sie haben richtig verstanden. Die Bezeichnung Industriekauffrau gab es zu der Zeit nicht. Dabei musste ich immer wieder meinem damaligen Chef zuarbeiten und Steno auf der Schreibmaschine schreiben. Irgendwann war meine Sicht so schlecht, dass ich Steno von Hand schrieb, erst mit Bleistift, dann mit einem dicken Filsstift. Als auch das nicht mehr funktionierte und ich nicht mehr richtig meiner Arbeit nachgehen konnte, entschloss ich mich dazu, einen Augenarzt aufzusuchen. Dort wurde ich regelrecht zurückgewiesen. „Da kann man nichts machen“, hieß es immer wieder. Dabei sagte man mir, ich hätte auf den Augen nur noch fünf bis sieben Prozent Sehkraft. Doch ich gab nicht auf. Als dann zufällig ein Nachbar selbst schwer an den Augen erkrankte, er verlor sogar eines, da erhielt ich von ihm den Rat, zur Augenklinik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zu gehen. Dort nahm man mich und meine schwere Augenerkrankung ernst. Auch wenn die Ärzte damals keine richtige Diagnose treffen konnten, so war dennoch schnell klar, dass mir nur durch eine Augenhornhauttransplantation geholfen werden konnte. Eine Brille, mit so dicken Gläsern wie ich sie bereits trug, half leider nicht mehr.

Hierzu eine kurze Anekdote am Rande: Ich besuchte damals ein Süßwarengeschäft und war gerade dabei, mir eine Auswahl an Leckereien zusammenzustellen. Da fiel mir eines dieser dicken Brillengläser heraus und ich musste in den Süßigkeiten wühlen, um es wieder zu finden. Das war für mich damals eine wirklich unangenehme Situation.

Zurück zum UKE. Kurze Zeit später erhielt ich die Nachricht, dass ein passendes Transplantat eines Gewebespenders gefunden werden konnte. Die Operation führte damals Professor Sauter durch. Die Transplantation verlief problemlos. Nach etwa einem halben Jahr konnten die Fäden gezogen werden. Ich weiß noch genau, wie die Ärzte damals über das berühmte Wimbledon-Finale mit John McEnroe sprachen.

Meine Sehkraft erholte sich. Ich war begeistert. Auch das andere Auge sollte operiert werden, doch vorerst riet man mir dazu, bei bestehendem Kinderwunsch zunächst schwanger zu werden und die Geburt abzuwarten. Die Ärzte waren sich zum damaligen Zeitpunkt nicht sicher, wie sich das Transplantat bei dem großen Druck, der unter der Geburt auch auf den Augen zustande kommt, verhalten würde. Doch auch das lief alles gut. Ich wurde schnell schwanger, brachte meinen ersten Sohn zur Welt und konnte ein halbes Jahr später auf dem zweiten Auge transplantiert werden. Währen der zweiten OP ist allerdings das Transplantat gerissen. Die Operation musste verschoben werden. Doch wenige Wochen später war es dann wieder so weit. Diesmal lief alles reibungslos. Die Ärzte im UKE waren von meinem damaligen Fall so begeistert, dass ich mehrmals bei Vorlesungen in der Universitätsklinik war, damit sich die Studierenden meine Sternnaht ansehen und von meinem Schicksal und der Behandlung lernen konnten.

Irgendwann zog es mich dann aus privaten Gründen nach Hannover. Dort besuchte ich einen neuen Augenarzt. Als ich vor wenigen Jahren die Diagnose Sarkoidose in der Lunge erhielt, musste ich Kortison zu mir nehmen. Dabei handelte es sich um viele kleine, wenn auch gutartige Tumore, die mich jedoch nur sehr schwer atmen ließen. Jede kleinste körperliche Anstrengung war für mich schier unüberwindbar. Was niemand damals wusste: Das Kortison gefiel meinen Augen und den Transplantaten gar nicht. Es drohte eine Abstoßung. Die Hornhäute wellten sich regelrecht. Daraufhin setzten wir das Kortison ab. Die Sarkoidose und die Abstoßungsreaktionen waren wieder verschwunden. Ein Glück.

Inzwischen bin ich 70 Jahre alt und was soll ich sagen, die Transplantate von damals habe ich immer noch und ich kann wunderbar sehen. Ich trage zwar nach wie vor noch harte Kontaktlinsen, doch die stören mich nicht. Damals sagte man mir, dass die Transplantate vermutlich 15 bis 20 Jahre halten würden, man dann neu operieren müsste. Aber nein. Inzwischen lebe ich seit fast 50 Jahren mit den Spenderhornhäuten und erfreue mich jeden Tag über eine klare Sicht. Auch wenn ich vielleicht die Zeitung etwas näher zu mir halten muss, so ist die Sicht insgesamt sehr gut.

Durch die Transplantation hatte sich meine Lebensqualität um ein Vielfaches verbessert. Das kann man sich als normal sehender Mensch gar nicht vorstellen. Vor der Operation fiel ich immer wieder durch die Sehprüfung und konnte meinen Führerschein nicht machen. Das holte ich nach den Operationen schnell nach. Ich konnte mich nur mit den Händen vorweg vorantasten. Das eine Mal verpasste ich den richtigen Ausstieg und landete auf einem Abstellgleis. Ich erlebte Situationen, die mir Angst machten.

Ich bin für die Möglichkeit der Gewebespende und dafür, dass sich damals jemand dazu bereit erklärt hat, unheimlich dankbar. Ich hätte sonst nicht dieses Leben führen können, nicht an der Nähmaschine sitzen können, nicht das Autofahren erlernen können. Ich bin dankbar, dass es so gekommen ist.