Vielfältige Anwendung schenkt vielfältig Lebensqualität

Seit 2005 ist Jürgen Ehlers Geschäftsführer des gemeinnützigen Deutschen Instituts für Zell- und Gewebeersatz (DIZG) in Berlin. Das DIZG wurde 1993 von Wissenschaftlern aus den Universitätskliniken aus Erlangen, Leipzig und Berlin gegründet mit dem Ziel, die Patientenversorgung mit Knochen und Weichgewebe wie Sehnen und Bändern zu stabilisieren und zu professionalisieren. Heute ist das DIZG ein wichtiger Versorger für Kliniken mit muskuloskelettalem Gewebe. Mit Jürgen Ehlers haben wir über die Aufbereitung und den Einsatz von MSG-Transplantaten gesprochen.

 

Was war damals Ihr Antrieb, als Sie bei dem DIZG angefangen haben?

Ich fing 2005 beim DIZG an mit dem Ziel, das DIZG wirtschaftlich auf ein neues, sicheres Fundament zu stellen. Kurz darauf besuchte ich die Weihnachtsfeier der Schwerbrandverletzten in Berlin. Dort spielte ein 11-jähriger Junge, der keine Ohren und keine Nase mehr hatte, auch sein Mund war vernarbt, auf dem Saxofon Stille Nacht. Das Publikum, inklusive mir, war zu Tränen gerührt. Ich dachte mir, das ist etwas, wofür ich mich einsetzen möchte und bin beim DIZG geblieben.

Es ist ein sehr schönes Gefühl, wenn man etwas dazu beitragen kann, Menschen mit solchen Schicksalen ein besseres Leben zu ermöglichen.

Was sind die Kernbereiche des DIZG?

Wir haben uns mit dem DIZG schnell auf zwei zentrale Bereiche fokussiert: 95 Prozent unserer Tätigkeiten konzentriert sich auf die Versorgung fast aller chirurgischen Fachdisziplinen mit muskuloskelettalen Gewebetransplantaten, von der Neuro- bis zur Fußchirurgie. In den übrigen fünf Prozent konzentrieren wir uns auf die Versorgung Schwerbrandverletzter Patienten mit autolog gezüchteten Kulturhauttransplantaten, also patienteneigene Zellen. Das betrifft in der Regel Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Körperoberfläche mehr als 50 Prozent zweit- bis drittgradig verbrannt ist und in akuter Lebensgefahr schweben. Die autologen Zellkulturen stellen häufig die einzige Behandlungsoption dar, wodurch Verbrennungsopfer mit bis zu 90 % verbrannter Hautoberfläche gerettet werden. Aufgrund der oft begrenzten Spenderareale ist der Einsatz autologer Zellkulturen bei Kindern schon bei kleineren Flächen angezeigt.

Wie ist die aktuelle Versorgungssituation mit MSG in Deutschland?

Unser Ziel ist es, Gewebetransplantate für die klinische Anwendung präzise, zeitgerecht und qualitativ hochwertig bereitzustellen. Genau hierfür sind wir auf die Unterstützung verschiedener Gewebespendeprogramme wie das der DGFG angewiesen. Momentan geben wir ungefähr 70.000 Transplantate an rund 800 klinische Einrichtungen in Deutschland sowie an viele weitere Krankenhäuser in ganz Europa jährlich ab. Noch immer überwiegt die Anzahl an Anfragen das Angebot an menschlichem Gewebe. Verfügbarkeit ist auch hier eine große Herausforderung.

Können künstliche Ersatzprodukte den Mangel an Spendergewebe ausgleichen?

Ein synthetischer Ersatz ist immer ein Kompromiss. Wenn Sie ein Röhrenknochensegment von einem 16-Jährigen ersetzen wollen, der noch 60 oder 70 Jahre damit leben soll, dann haben Sie nicht viele Möglichkeiten – im Zweifel gibt es also gar keine synthetischen Alternativen. Um die Verfügbarkeit an Spendergewebe sicherzustellen, bedarf es genügend Spendeprogramme mit entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, dem Engagement der Kliniken und der Spendebereitschaft der Bevölkerung.

In welcher Form und in welchem Bereich verwendet man Knochentransplantate?

Röhrenknochensegmente können in der Tumorchirurgie bei Patientinnen und Patienten mit Knochenkrebs zum Beispiel ganze Teile des Oberarmknochens ersetzen. Für andere Gewebezubereitungen zerkleinern und verfilzen wir die harten Bestandteile der Knochen zu einem ganz neuen Gewebe und verändern die Oberfläche. Das Resultat ist Fiberfill®, ein humanes Füll- und Trägertransplantat für die aseptische und septische Knochenchirurgie. Dieses Transplantat wird z. B. mit Antibiotika perfundiert und in der septischen Chirurgie zur Behandlung infizierter Knochendefekte eingesetzt.

Knochensegmente aus dem Beckenknochen bereiten wir zu Transplantaten auf, die oft zur Behandlung von Fehlbildungen bei Kindern und Jugendlichen im Knie, am Fuß oder an der Hüfte eingesetzt werden. Wir versorgen sehr häufig auch den Austausch künstlicher Hüft- und Kniegelenke mit Knochentransplantaten. Über die Jahre können sich die Metallimplantate lockern, diese müssen entfernt und die dabei entstehenden Knochendefekte mit Spenderknochen rekonstruiert werden. Außerdem stellen wir aus menschlichen Knochen Schrauben zur Korrektur von Fehlstellungen an Fuß- und Fingergelenken her. Da gibt es auch wieder 30 oder 40 verschiedene Indikationen, wofür man diese Knochenschrauben einsetzen kann. Das ist also ein sehr breites Anwendungsfeld.

Wann werden Sehnen transplantiert?

Auf Sehnen greift man oft in der Behandlung von Kreuzbandverletzungen oder Sprunggelenksverletzungen zurück oder bei Verletzungen des Bandapparates bzw. bei der Rekonstruktion der Sehnenplatte an der Schulter. Sehnen-Transplantate stellen immer die Beweglichkeit wieder her und sorgen dafür, dass alltägliche Dinge wie das Anziehen oder Zähneputzen wieder möglich sind.

Wie läuft die Gewebevermittlung beim DIZG ab?

In der Regel versorgen wir Anfragen ohne langen Planungsvorlauf. Es gibt zwar Operationen, wie den Austausch eines künstlichen Hüftgelenks, bei dem der OP-Termin schon länger bekannt ist. Doch selbst hier stellt der Operateur oft erst kurz vor der OP fest, dass noch weitere Transplantate benötigt werden. Hier kommen meist Spongiosa-Blöcke oder -Chips zum Einsatz. Kliniken können bei uns aus mehr als 240 unterschiedlichen Transplantaten die erforderliche Gewebeart und Größe auswählen. Bei uns läuft die Versorgung nach Bestelleingang: Wer zuerst bestellt, bekommt als erstes das gewünschte Transplantat. Wir wollen und können die Fülle an verschiedenen medizinischen Indikationen für eine Transplantatanfrage nicht hinsichtlich ihrer Dringlichkeit bewerten. Dafür sind die Einsatzgebiete zu unterschiedlich.

Wie lange sind MSG-Transplantate lagerbar?

Unsere Transplantate sind im kürzesten Fall zwei Jahre tiefgekühlt lagerbar, die meisten sogar bei Zimmertemperatur bis zu fünf Jahre. Kann das Gewebe selbst nach dieser Zeit nicht vermittelt werden, führen wir damit medizinische Schulungen, oder im Falle einer Forschungsfreigabe, auch Studien durch, um die Gewebetransplantate zu verbessern und weiterzuentwickeln. Der Verwurf von Gewebe ist bei uns eine Seltenheit.

Was sind die Vorteile des Spendergewebes gegenüber Eigengewebe?

Die Entnahme von Eigengewebe verursacht immer eine zweite Wunde, die behandelt werden muss. Auch diese zweite Wunde hat ihre eigene Komplexität, ein Infektions- und Narkoserisiko und verursacht Pflege- und Medikationskosten. Außerdem kann nur begrenzt auf körpereigenes Gewebe zurückgegriffen werden. Es gibt auch einen ökonomischen Effekt, weil sich die OP-Dauer durch die zweite Wunde verlängert. All das entfällt bei der Transplantation von Spendergewebe. Im Vergleich zu den synthetischen Transplantaten haben unsere Transplantate den Vorteil, dass ein Original durch ein Original ersetzt wird. Menschliches Gewebe ersetzt menschliches Gewebe. Hierbei spielen die Zusammensetzung aus natürlichen Kollagenen und Mineralien ebenso wie die Porengröße und die Oberfläche eine zentrale Rolle, die eine Zelle als ideal wahrnimmt, um darauf wachsen zu können. Spenderknochen wird vom Organismus des Patienten oder der Patientin als ideales Leitgitter erkannt. Wenn Sie ein Knochentransplantat bei Kindern und Jugendlichen einsetzen, finden Sie das transplantierte Gewebe nach einigen Jahren dort schon gar nicht mehr. Aufgrund der hohen biologischen Aktivität wird das Spendergewebe vom Organismus sehr zügig in Eigengewebe umgewandelt. Es wachsen Gefäße hinein, das Transplantat bekommt eine eigene Blutversorgung und wird in patienteneigenes Gewebe umgebaut.

Werden MSG-Transplantate abgestoßen?

Seit Gründung des DIZG 1993 haben wir mehr als 790.000 Transplantate erfolgreich abgegeben. Es gibt bis dato keinen dokumentierten Fall, bei dem ein Transplantat abgestoßen wurde, so wie man das klassisch bei Organen kennt. Durch unser Aufbereitungsverfahren zerstören wir die Oberflächenantigene auf den Zellen der Gewebe, die Abstoßungsreaktionen hervorrufen könnten.